
HOMBERG/OHM (ol). Vielleicht hat man sich schon daran gewöhnt, vielleicht will man es auch gar nicht mehr hören und sehen – das Elend, das Menschen auf sich nehmen, um den Kriegen und humanitären Katastrophen ihrer Heimat zu entkommen.
Die Veranstaltung der Evangelischen Dekanate Alsfeld und Vogelsberg mit Sabine Müller-Langsdorf über die Situation geflüchteter Menschen in Griechenland, die im Januar im Gemeindesaal in Homberg/Ohm stattgefunden hat, hätte auf jeden Fall mehr Zuspruch verdient gehabt. Zumal die Friedenspfarrerin der EKHN stets auch einen Funken Hoffnung aufblitzen ließ – etwa wenn sie über das Engagement der vielen freiwilligen Helfer speziell auf Lesbos berichtete. Das geht aus einer Pressemeldung des Evangelischen Dekanats Alsfeld hervor.
Als großer Griechenlandfan verbrachte Müller-Langsdorf mit ihrer Familie viele Urlaube auf Lesbos, berichtete sie eingangs. Die große Anzahl von Menschen, die 2015 über das Mittelmeer – insbesondere Griechenland und die Türkei – nach Europa drängte, ging gerade an Lesbos nicht unbemerkt vorbei. Mit nur neun Kilometern Abstand zur Türkei bot die engste Meeresstelle viel Hoffnung für die Geflüchteten – Hoffnung, möglichst gut eine weitere Etappe der Flucht zurückzulegen. Derzeit, so die Pfarrerin, leben 24.000 Flüchtlinge auf Lesbos. Die Insel selbst hat 90.000 Einwohner. „Als im Jahr 2015 650.000 Menschen über das Meer auf Lesbos ankamen, hätte das im Verhältnis für Deutschland 600 Millionen Menschen bedeutet“, führte sie aus.
Doch nicht erst 2015, schon Jahre zuvor kündigte sich eine große Veränderung an: Im März 2013 ging vor Lesbos ein Flüchtlingsboot unter. 27 Menschen, darunter viele Kinder, ertranken. „Wo sind unsere Kinder“ lautete daraufhin eine von Fischern und Aktivisten gemeinsam gestartete Initiative. Neben Aufklebern, die mit dem aufgedruckten Unglücksdatum darauf aufmerksam machen sollten, errichtete man ein Denkmal aus Paddeln, recherchierte alle Namen der Opfer und gestaltete gemeinsam mit den Hinterbliebenen eine Trauerfeier. „Dieses zutiefst menschliche Verhalten berührt mich als Pfarrerin – aber nicht nur als Pfarrerin“, sagte Müller-Langsdorf.
Schnelle Ernüchterung nach Ankunft auf der Insel Lesbos
Eine solche Aktion ist zwar Ausdruck großer Hoffnung und Mitmenschlichkeit, kann aber dennoch nicht über die menschenverachtenden Zustände von Flucht hinweghelfen: „Die Flucht ist ein riesiges Geschäft, Schlauchboote werden einfach zurückgelassen, es entsteht sehr viel Müll, die Motoren werden innerhalb von Minuten abgebaut, zerlegt und wieder an die türkische Küste transportiert. Eine Rettungsweste kostet 30 Dollar, dabei sind sie mitunter nur mit Papier gefüllt und taugen gar nichts. Für die kurze Überfahrt müssen die Menschen je nach Wetterlage 1000 bis 1500 Dollar zahlen.“ Viele der Menschen, die diese Wege auf sich nehmen, kommen zu großen Teilen aus Ländern ohne Meer, berichtete die Referentin. Sie kennen weder große Gewässer, noch können sie schwimmen.
„Wenn die Menschen auf Lesbos ankommen, haben sie einen so hoffnungsvollen Blick, sie sind so froh, endlich europäischen Boden betreten zu haben, doch dann begreifen sie ihre Situation“, so die Erfahrung der Pfarrerin: Das Lager Moria beispielsweise, das seit 2015 zur Registrierung der Geflüchteten, also als sogenannter Hotspot dient, war früher ein Gefängnis. Es ist total überfüllt und raubt den Menschen, die hier dauerhaft sitzen und weder nach Europa noch in die Türkei können, den Verstand. Medienberichten zufolge ist die Situation hier wie in anderen Lagern nicht tragbar. „Ein Europa, das mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet ist, sollte ein Europa mit menschlichem Antlitz sein, aber in der Flüchtlingspolitik ist es das nicht“, wurde Müller-Langsdorf deutlich.
Goßes Engagement von verschiedenen Organisationen
Gleichzeitig jedoch nimmt Müller-Langsdorf ein ungeheures humanitäres Engagement auf Lesbos wahr: Aus den zurückgelassenen Rettungswesten werden im Rahmen von sozialen Projekten Taschen genäht. Die Menschen haben nun zumindest eine Aufgabe vor Ort. Ihr Tag bekommt eine Struktur, ihr Tun durch den Verkauf eine Wertschätzung.
Große Organisationen wie UNHCR, THW, Ärzte ohne Grenzen oder das Rote Kreuz sind gemeinsam mit kleinen Initiativen aktiv. Freiwillige organisieren das Essen und widmen sich der medizinischen Betreuung: Die Geflüchteten bringen viele nicht verheilte Wunden und Brüche mit, die wochen- oder monatelang nicht versorgt wurden. Dazu kommen die psychischen und traumatischen Belastungen. Im Herbst 2016 konnten die Ärzte ohne Grenzen ein Krankenhaus für geflüchtete Menschen eröffnen – auch dies ein Fortschritt, gab es zuvor doch nur eine einzige Klinik mit 50 Betten auf Lesbos.
Weitere Hoffnungsschimmer bieten laut Müller-Langdsorf die Eröffnung einer Schneiderwerkstatt für geflüchtete Frauen in Sadoniki sowie die Eröffnung eines Cafés als Begegnungsort und Arbeitsstätte für geflüchtete Menschen, sein Name: NAN, das afghanische Wort für Brot. „Wir brauchen darüber hinaus Projekte, die dazu beitragen, den Menschen, die weder vor noch zurück können, eine Perspektive oder Aufgabe zu geben“, forderte die Beobachterin.
„Die EU lässt Griechenland ganz allein“
Als ein besonders interessantes Projekt stellte die Referentin die Initiative „welcome2EU“ vor: Hier haben sich junge Menschen organisiert, die Personen nach Lesbos holen, die selbst eine Flucht hinter sich haben und sowohl als Sprachmittler agieren, als auch aufklären können über den Fluchtweg sowie bürokratische Hürden und Lösungen (http://www.w2eu.info). Auch die Einheimischen hören in ihrem Engagement und der Spendenbereitschaft, beispielsweise von Windeln oder Medikamenten, nicht auf. Dennoch: „Die Menschen auf Lesbos, auch die Helferinnen und Helfer, sind am Ende ihrer Kräfte; Verzweiflung macht sich breit“, so die Wahrnehmung der Friedenspfarrerin, die klare Worte fand: „Die EU lässt Griechenland ganz allein – das ist ein Skandal!“
Klare Worte von Seiten der Öffentlichkeit forderte die engagierte Referentin und sah hier ganz besonders auch die Kirchen in der Pflicht. „Ich hoffe sehr, dass Europa sich an diesen Zustand hier nicht gewöhnt, und dass wir uns nicht damit abfinden“, sagte beispielsweise Manfred Rekowski, Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland, der im Jahr 2016 gemeinsam mit anderen Vertretern der evangelischen Kirche das Lager Idomeni besuchte. Gemeinsame Lösungen forderte auch Dr. Volker Jung, Kirchenpräsident der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau: „Die Situation wird von Griechenland alleine nicht zu lösen sein. Deshalb wird es darum gehen, dass Europa noch einmal gemeinsam hier hinschaut und auch gemeinsam Lösungen für ein vernünftiges und ordentliches Aufnahme- und Registrierungsverfahren findet.“
Zustimmung fanden die Schilderungen Müller-Langsdorfs ganz besonders bei einem Gast des Vortrags, der selbst als Helfer vor Ort war. Er berichtete von zirka 40 Booten mit mindestens 70 Menschen an Bord, die jeden Tag ankamen. „Viele Menschen sind ertrunken, Kinder waren unterkühlt und mussten aus dem Wasser gezogen werden. Wenn man dort war, bekommt man einen anderen Blick auf Politik und einen anderen Blick auf Menschen“, so die Erfahrung von Bert Wingender, der leise hinzufügte: „Jede Schwimmweste ist ein Menschenleben.“
Wer sich weiter mit dem Thema beschäftigen möchte, dem oder der empfiehlt die Referentin das Buch „Einbruch der Wirklichkeit – Auf dem Flüchtlingstreck durch Europa“ von Navid Kermani.
Der Beitrag Jede Schwimmweste ist ein Menschenleben erschien zuerst auf Oberhessen-Live.